Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, liebe hoffentlich außerordentlich stolze Eltern und Anverwandte sowie Freunde, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe MitarbeiterInnen, liebe Schülerinnen und Schüler, liebe Gäste!
Zunächst erst einmal meinen herzlichen Glückwunsch zum bestandenen Abitur – wir, d.h. Lehrerkollegium und Schulleitung, freuen uns mit Ihnen und sind zugleich außerordentlich stolz auf Sie alle. Wir freuen uns auch darüber, dass Sie es auch im zweiten Jahr des angeblich so viel schärferen und objektiveren Zentralabiturs geschafft haben, den ‚Schnitt’ zu halten, also im langjährigen Durchschnitt der Ergebnisse unserer Schule – ob mit oder ohne Zentralabitur – zu bleiben. Damit liegt auch erneut ein empirischer Beweis dafür vor, dass wir und Sie uns mit unseren Leistungen nicht verstecken müssen. Im Gegenteil, Ihre Leistungen am Goethe-Gymnasium passen auch zu den anderen Ergebnissen, die als standardisierte Arbeiten in den mittleren Klassenstufen in den letzten Jahren erzielt wurden – es geht nie um den Klassenerhalt, sondern Goethe liegt auch dort im oberen Tabellenfeld und den geistigen Fitnesstest haben Sie als unser Abiturteam gut bestanden, meine Hochachtung. Wir wollen aber heute, trotz der eingeschlagenen und sicher in die Zeit passenden Fußballmetaphorik, nicht eine neuerliche Abrechnung mit der Zählbarkeitsideologie in der heutigen Bildungswelt auflegen. Unter Hinzuziehung dieser Metaphorik käme man auch schnell auf gedankliche Abwege oder gar ins erhellende Abseits – sollten wir als Schule, als Gymnasium, das in der ersten Liga spielt, bei etwaigen nicht so guten Ergebnissen oder sogar bei einem hinterem Tabellenplatz vielleicht Top-Schüler-Spieler von außen zukaufen, d.h. solche, die den Anschein geben, irgendwann mit einem Spitzenabitur aufzuwarten? Oder sollten wir vielleicht brutalstmöglich hingehen, und unsere gymnasiale Mannschaft von all solchen Mitspielern säubern, deren Leistung nicht jederzeit verspricht, einen Spitzenplatz zu garantieren, nur weil sie vielleicht mal ein pubertäres Formtief haben oder die Leistungseinstellung auf Grund einer häuslichen Krise gerade nicht stimmt. Nein, genau das haben wir mit Ihnen und ihrem Jahrgang nicht gemacht, was andernorts durchaus die Regel ist, nein das Goethe-Gymnasium hat – allerdings unter Einsatz vielfach mah-nender Worte doch im Prinzip an Sie und Ihren Erfolg geglaubt, so dass wir heute Abend mit Recht ihr bestandenes Abitur feiern können. Und folglich habe ich auch nicht vor, eine neuerliche BildungspolitikerInnenkritik oder ähnliche ‚Dingers’ aufzulegen. Nein, die gewählte Metaphorik bietet heute in einer fußballbesoffenen Zeit und zugleich in dem Mo-ment, wo Sie der Schule endgültig den Rücken kehren, eine viel tiefer greifende Möglichkeit, über Politik in der heutige Zeit, Ihre beruflichen Perspektiven darin und Ihre persönli-chen und ökonomischen Entwicklungschancen zu sinnieren.
Fangen wir dazu im Sinne von guten Ratschlägen zunächst ganz harmlos bei der ersten Dimension, dem Verdienst an. Sie alle werden über kurz oder lang eintreten in den Wettbewerb um die richtige Bezahlung ihrer Leistungen und Künste. Für die angemessene Ball- oder Kundenbehandlung zahlen Arbeitgeber wie Vereine gerade bei jungen Leute stets eine Hoffnungs- und Entwicklungskomponente – also sind Sie gut beraten sich hier richtig aufzustellen und sich so präsentieren, dass man diese in Sie setzen kann. Seien Sie aber nicht gleich frustriert, wenn man von Ihnen, anders als bei unseren Top-Kickern, ein (oder mehrere) un- oder mäßig bezahlte Praktika verlangt, so dass Sie sich irgendwann als zugehörig zur so genannten Generation Praktikum fühlen, ein Leben mit fast ohne Geld bei vollem Arbeitsausgleich. Dabei sein ist alles, man kann auch von der Luft der großen weiten Business-Welt leben. Wenn Sie dem allerdings entgehen wollen, halten Sie sich an die Vorbilder dieser Tage: zeigen Sie Spielwitz und Originalität, bieten Sie Sicherheit und Verlässlichkeit, liefern Sie Ideen und erweisen Sie sich zugleich als technisch versiert. Präsentieren Sie sich auch mit internationalen Erfahrungen oder sozialem Engagement, was Sie – falls Sie z.B. jetzt Wartezeiten haben, gut noch anschließen könnten. Und zeigen Sie auch, dass Sie vom Goethe-Gymnasium Teamfähigkeit und Teamgeist mitgenommen haben, so wie es jüngst die Darsteller und Musiker ihres Jahrgangs in ihren ‚Parallelwelten’ oder beim ‚Schall ist rund’ oder ‚Geld macht Glücklich’ unter Beweis gestellt haben – dann werden Sie vermutlich zwar nicht gleich mit Werbeaufträgen für diverse Milchschnitten, Yoghurts oder Scheckkarten überhäuft, aber doch hoffentlich mit der Frage konfrontiert, wie denn bitteschön die Gehaltsvorstellungen sind. Und bewahren Sie auch kritische Distanz zu diesem milchschnittigen Glauben an den jahrelang erlebten sofort-Cash nach vielleicht nur 15 Sekunden Werbung oder nach den drei Minuten und 11 Sekunden eines Popsongs mit astronomischen Einspielsummen, ja bewahren sie grundsätzlich kritische Distanz zur Droge Geld, die gerade bei heutigen Kindern und Jugendlichen die Köpfe umnebelt und eventuell auch bei Ihnen die Wichtigkeit von solider Ausbildung und schrittweisem Erfahrungsgewinn in den Schatten treten lassen könnte. Soweit also ganz harmlos aus der Abteilung wohl-meinender Lebensratschläge.
Schwieriger wird es allerdings, Ihnen Rat zu geben zu einer zweiten Dimension von Entwicklungsperspektiven, die sich uns bildhaft tagtäglich auf dem grünen Rasen präsentieren. Es ist in der Tat eine Freude das gelebte ’Zu Gast bei Freunden zu sehen’; die Liberalität und Toleranz verschiedenster Menschen aus allen möglichen Ländern, die Sieg oder Niederlage ‚Ihrer’ jeweiligen Mannschaften Schulter an Schulter mit anders Eingestellten bei Public-Viewings oder in den Stadien erleben, wo ein neues spielerisches Zugehörigkeitsgefühl zu einer Marke, einem Verein oder einem Land auch mit einem Fähnchenschwenken einhergeht, Und ich freue mich, dass dieses in unserem Land möglich ist, ohne dass kriegerische Urgelüste geweckt werden und dumpfer Nationalismus recycelt wird. Was dort tagtäglich zu sehen ist, beweist vielmehr, das viele Menschen auch mental in der globalisierten Welt angekommen sind, da in der Tat – weil bereits Kapitalverkehr und Warenaustausch weltweit fast völlig frei erfolgen – das Einmarschieren beim nächsten oder übernächsten Nachbarn nicht mehr so furchtbar viel Sinn macht. Das haben zwar noch nicht alle Regierungen und Präsidenten dieser einen Welt begriffen, aber man wird das noch lernen – und sei es dadurch, dass diesen die Kosten für eine unzeitgemäße Produktionsweise aus dem Ruder laufen. Aber der grüne Rasen macht auch überdeutlich, dass auch eine weitere Komponente der Globalisierung bereits Realität geworden ist: Unten auf dem Grün wird mit Händen greifbar, dass auch die Schranken für die Freizügigkeit der Arbeit endgültig weggebrochen sind, wir sehen dort unten die modernen Wanderarbeiter, die in diesem Falle extrem hoch bezahlt heute für den, morgen für jenen Staat, Verein oder Konzern aufspielen. Leider – und das ist gegenwärtig ein Dilemma und zugleich schreiende Ungerechtigkeit – gibt es auch extrem schlecht bezahlte Wanderarbeiter oder vielfach sogar nur Hungerlöhne. Die Heerscharen von Migranten nach Europa oder von Chicanos, die aus Mexiko in die USA wandern, sind ein augenfälliges Beispiel. Und auch die Generation Praktikum ist ein Element dieser Entwicklung und wird auch vor Ihnen nicht halt machen: Denn warum sollte man z.B. einem Berufsanfänger als Architekten bei uns, der Bauzeichnungen am Computer bastelt, überhaupt nennenswert bezahlen, wenn man für die selbe Leistung und Qualität in Indien nur ein Zwanzigstel bezahlen muss und die mentale Leistung mit zwei Klicks hin- und zurück geschickt werden kann? Also erscheint das Praktikum doch genau als das passende Arbeitsverhältnis. Freiwillig wird erst dann mehr gezahlt werden, wenn soviel Kompetenzzuwachs erlangt wurde, dass man auf diesem Markt konkurrenzlos oder unverzichtbar ist. In diesem Satz steckt auch zugleich der Rat, den die Schule Ihnen heute mit gibt – feiern Sie ruhig hier und heute ausgiebig Ihren Erfolg, aber ruhen Sie sich nicht auf diesen Lorbeeren aus. Und ein zweiter Ratschlag gehört auch dazu, von einer Schule, die sich stets dem sozialen Ausgleich verschrieben hat und kehren Sie dazu noch einmal zurück zu dem Bild der verschiedensten Nationalitäten, die auf dem Heiligengeistfeld oder sonst wo in der Republik gemeinsam feiern und stellen Sie sich mit mir gemeinsam der Frage, wieso schaffen Menschen verschiedener Nationalitäten nicht ebenso einmütig und zügig einheitliche Arbeits- und Sozialstandards, so dass eine Konkurrenz über ein Sozialdumping unmöglich wird? In der Umweltpolitik hat das doch auch gar nicht so lange gedauert, wenn man die Zeit von den ersten Turnschuhen im deutschen Bundestag bis zur weltweiten FCKW-Ächtung betrachtet – da kann man Sie doch fast aufrufen, sich schleunigst vergleichsweise sozialpolitische Treter unterzuschnallen und die Beseitigung des Praktikantenunwesens hier wie dort zu fordern, und: geht nicht – gilt nicht, denn Teppiche aus Kinderhandarbeit gelten nicht nur bei IKEA schon nicht mehr als schick. Und etwas Drittes, was Sie – selbstkritisch gesagt – vielleicht an unserer Schule nicht genug gelernt haben, lassen Sie sich in dieser Dimension auch mitgeben: Forderungen nach angemessener Bezahlung und Arbeitsbedingungen setzt man nicht durch frei nach dem hier vor nicht allzu langer Zeit gehörtem Song – ‚Hey Boss, ich brauch mehr Geld’, sondern da muss man sich schon an das Vorbild der Ärzteschaft halten, deren jüngster Erfolg maßgeblich darin begründet war, dass sie sich gemeinsam organisiert hatten und obendrein ganz praktisch mit der Globalisierung drohen konnten – ihre Fähigkeiten werden eben weltweit gebraucht. Und dazu muss man gegebenenfalls auch völlig neue Organisationsformen schaffen, eben internationale – hier gibt es eine Menge zu tun, also packen Sie es an.
Und eine dritte Dimension, die die Fußballeuphorie dem aufmerksamen Beobachter heute nahe legt, sei zum Schluss angefügt und die fordert die Weiterentwicklung von Ihnen als Abiturientinnen und Abiturienten des Goethe-Gymnasiums zu politisch handelnden Subjek-ten in unserer Zeit und unseren Ländern, in denen nicht nur im Staate Dänemark etwas faul ist – vielleicht dort sogar weniger als anderswo.
Es ist gegenwärtig im Fußball und in Hamburg viel Geld unterwegs, es wird fix was verdient und manch einer macht gegenwärtig sicher die Geschäfte seines Lebens. Aber wird von denen, die jetzt auf der Sonnenseite stehen, auch fair mit der Allgemeinheit, dem Mitspieler ‚Staat’ umgegangen? Handelt man nach der Maxime der ‚ehrlichen Kaufleute’ und werden tatsächlich zumindest die Unkosten dieser Geschäftemacherei der Gesellschaft zurückgegeben, oder wird auch dieser Mindeststandard übergangen mit dem schnöden Hinweis auf die zu zahlenden Steuern, die man andernorts durch geschickte Bilanzmanipulationen zu vermeiden schafft? Man gerät doch durchaus ins Grübeln, wenn man jetzt Anfang der Wo-che lese konnte, dass der Verein, von dem hinten in der Vitrine sogar ein Fußball liegt, die Fernsehrechte für die nächsten 7 Jahre für eine Milliarde Euro verkauft hat; mit dieser Summe, die der FC Barcelona jetzt einnimmt, könnten Sie locker alle Gehälter des Goethe-Gymnasium, von der Putzfrau bis zum Schulleiter für die nächsten 400 Jahre bezahlen. Und wir selbst sind bereits Trittbrettfahrer dieses Systems, in dem wir von dem Fußballzirkus profitieren und Sporthalle und Sportplatz WM-tauglich saniert bekommen haben – nicht etwa aus Mietgeldern der FIFA – die hat die Halle nach der Vorgabe des Senats mietfrei erhalten – sondern in dem ach so knappen Bauetat der Schulbehörde wurde unsere Schule nur vorgezogen, da Hamburg sich ja nicht lumpen lassen kann und ein über 25 Jahre vom vielen Schülerschweiß abgenutzten Gebäude der internationalen Volunteergarde überlas-sen kann – hat hier jemand gerufen ‚das sind ja auch Praktikanten’? Nein die Wirklichkeit einer armen Stadt mit einigen sehr reichen Leuten wird auch in Lurup getreu der neroischen Politikformel ‚panem et circenses’ inszeniert. Ich will ja nicht als Spielverderber auftreten, aber da Verträge und Gesetze von Menschen gemacht werden, möchte ich auch heute auf Sie als künftig meinungsstarke Wähler oder gar politisch Verantwortliche setzen und Ihnen die Frage mitgeben, weswegen vermietet die Stadt und ihre gewählten Regenten so ein tolles Sportgelände wie unseres nicht an die FIFA zu marktüblichen Preisen und erwirtschaftet damit einen großen Batzen der Sanierungskosten? Oder warum wird der ge-samte staatliche Sicherheitsapparat inklusive vorgehaltenen abschussbereiten Abfangjets nicht den Veranstaltern in Rechnung gestellt? Man könnte mit diesen Geldern ohne große Probleme auch die Sanierung von solchen Turnhallen bezahlen, die nicht die Monopolstellung haben wie wir, nur 500 Meter entfernt vom gegenwärtigen Nabel der Stadt entfernt zu liegen. Das gilt übrigens auch für andere Events: wenn ich mich abends aus der Schule nach Hause bewegen will, stellt sich mir schon die Frage, wieso eigentlich all die verkehrsregelnden Polizisten nach einem Megaevent aus dem Staatssäckel bezahlt werden, während ich als Schulleiter komplementär dazu gerade wieder genötigt war, die Klassen und Kurse kontraproduktiv zu einem zukunftsorientierten Lernen gnadenlos voll zu stopfen, damit im Ergebnis Musikbusiness und einzelne Künstler sowie Fußballindustrie noch größere Millionengewinne einstreichen. Es würde fast niemandem wehtun, wenn die Vereine vielleicht nicht 20 oder 50 Millionen Ablösesumme abdrücken würden, sondern frei nach dem Verursacherprinzip eine entsprechend hohe Rechnung an die Stadt für ‚Security Services’ begleichen müssten oder wenn einige Spieler statt sechsstellige nur fünfstellige Gehälter erhalten würden – pro Woche, versteht sich.
Ich will damit anlässlich Ihres Abitur und des bisher gelungenen Fußballfestes keine Neiddebatte anregen, aber wir wären schlechte Pädagogen, wenn wir nicht auch an die Verbesserungsfähigkeit der Regeln des Zusammenlebens und -wirtschaftens in unserem Land glauben würden. Und änderbare Zustände, die insgesamt und nicht nur im Sport – dazu führen, dass in unserem Land nur gut 5% des Bruttosozialprodukts in die Bildung der nachwachsenden Generation gesteckt werden und nicht wie bei den Spitzenreitern in der PISA-Liga wie Finnland, Schweden oder Kanada gar 7%, gibt es bei genauerem Hinsehen sicher viele.
Und trotz so hohen Handlungsbedarfs lassen Sie uns heute gemeinsam feiern und freuen. Freuen wir uns, dass schon viel erreicht worden ist – manch einer von Ihnen hätte vor 50 Jahren den heutigen Abschluss nicht erreichen können, weil er nicht von entsprechendem Stand war oder die Eltern nicht das nötige Kleingeld hatten. Und dass Sie es heute geschafft haben, liegt in dem einen oder anderem Fall auch am Engagement Ihrer Lehrer, denen ich hiermit mit Nachdruck für die geleistete Arbeit meinen Dank ausspreche. Dass Sie es geschafft haben, liegt vor allem aber auch an Ihnen selbst, denn obwohl Ihre Lernbedingungen von Sparhaushalten untergraben wurden und Sie durch Zentralabituranforde-rungen noch weiter dezimiert werden sollten, haben Sie sich trotzdem durchgebissen. Insofern haben Sie sich also unmerklich selbst bestens gerüstet, um unter sich laufend verschlechternden Bedingungen zu behaupten – das sollte Ihnen Mut und Zuversicht geben, in eine unsichere Zukunft zu gehen.
Aber vielleicht ist neben Ihnen auch ein virtueller Platz von jemandem frei, von einem oder einer, an die Sie sich erinnern und die es nicht geschafft haben, weil der Staat, unsere Schule und unsere Gesellschaft nicht das nötige Kleingeld hatten, die angemessene Förderung und Unterstützung zu gewähren. Wir sollten alle gemeinsam daran arbeiten, dass spätestens, wenn Sie Ihre Kinder am Goethe-Gymnasium anmelden, eine solche Bildungspolitik der Vergangenheit angehört. Es ist noch Einiges zu tun und wir bauen da auf Sie, dass wir gemeinsam dieses Zukunftsprojekt angehen.
Egon Tegge – Schulleiter 07/2006
Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, liebe hoffentlich außerordentlich stolze Eltern und Anverwandte sowie Freunde, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe MitarbeiterInnen, liebe Schülerinnen und Schüler, liebe Gäste!
Zunächst erst einmal meinen herzlichen Glückwunsch zum bestandenen Abitur – wir, d.h. Lehrerkollegium und Schulleitung, freuen uns mit Ihnen und sind zugleich außerordentlich stolz auf Sie alle. Wir freuen uns auch darüber, dass Sie es auch im zweiten Jahr des angeblich so viel schärferen und objektiveren Zentralabiturs geschafft haben, den ‚Schnitt’ zu halten, also im langjährigen Durchschnitt der Ergebnisse unserer Schule – ob mit oder ohne Zentralabitur – zu bleiben. Damit liegt auch erneut ein empirischer Beweis dafür vor, dass wir und Sie uns mit unseren Leistungen nicht verstecken müssen. Im Gegenteil, Ihre Leistungen am Goethe-Gymnasium passen auch zu den anderen Ergebnissen, die als standardisierte Arbeiten in den mittleren Klassenstufen in den letzten Jahren erzielt wurden – es geht nie um den Klassenerhalt, sondern Goethe liegt auch dort im oberen Tabellenfeld und den geistigen Fitnesstest haben Sie als unser Abiturteam gut bestanden, meine Hochachtung. Wir wollen aber heute, trotz der eingeschlagenen und sicher in die Zeit passenden Fußballmetaphorik, nicht eine neuerliche Abrechnung mit der Zählbarkeitsideologie in der heutigen Bildungswelt auflegen. Unter Hinzuziehung dieser Metaphorik käme man auch schnell auf gedankliche Abwege oder gar ins erhellende Abseits – sollten wir als Schule, als Gymnasium, das in der ersten Liga spielt, bei etwaigen nicht so guten Ergebnissen oder sogar bei einem hinterem Tabellenplatz vielleicht Top-Schüler-Spieler von außen zukaufen, d.h. solche, die den Anschein geben, irgendwann mit einem Spitzenabitur aufzuwarten? Oder sollten wir vielleicht brutalstmöglich hingehen, und unsere gymnasiale Mannschaft von all solchen Mitspielern säubern, deren Leistung nicht jederzeit verspricht, einen Spitzenplatz zu garantieren, nur weil sie vielleicht mal ein pubertäres Formtief haben oder die Leistungseinstellung auf Grund einer häuslichen Krise gerade nicht stimmt. Nein, genau das haben wir mit Ihnen und ihrem Jahrgang nicht gemacht, was andernorts durchaus die Regel ist, nein das Goethe-Gymnasium hat – allerdings unter Einsatz vielfach mah-nender Worte doch im Prinzip an Sie und Ihren Erfolg geglaubt, so dass wir heute Abend mit Recht ihr bestandenes Abitur feiern können. Und folglich habe ich auch nicht vor, eine neuerliche BildungspolitikerInnenkritik oder ähnliche ‚Dingers’ aufzulegen. Nein, die gewählte Metaphorik bietet heute in einer fußballbesoffenen Zeit und zugleich in dem Mo-ment, wo Sie der Schule endgültig den Rücken kehren, eine viel tiefer greifende Möglichkeit, über Politik in der heutige Zeit, Ihre beruflichen Perspektiven darin und Ihre persönli-chen und ökonomischen Entwicklungschancen zu sinnieren.
Fangen wir dazu im Sinne von guten Ratschlägen zunächst ganz harmlos bei der ersten Dimension, dem Verdienst an. Sie alle werden über kurz oder lang eintreten in den Wettbewerb um die richtige Bezahlung ihrer Leistungen und Künste. Für die angemessene Ball- oder Kundenbehandlung zahlen Arbeitgeber wie Vereine gerade bei jungen Leute stets eine Hoffnungs- und Entwicklungskomponente – also sind Sie gut beraten sich hier richtig aufzustellen und sich so präsentieren, dass man diese in Sie setzen kann. Seien Sie aber nicht gleich frustriert, wenn man von Ihnen, anders als bei unseren Top-Kickern, ein (oder mehrere) un- oder mäßig bezahlte Praktika verlangt, so dass Sie sich irgendwann als zugehörig zur so genannten Generation Praktikum fühlen, ein Leben mit fast ohne Geld bei vollem Arbeitsausgleich. Dabei sein ist alles, man kann auch von der Luft der großen weiten Business-Welt leben. Wenn Sie dem allerdings entgehen wollen, halten Sie sich an die Vorbilder dieser Tage: zeigen Sie Spielwitz und Originalität, bieten Sie Sicherheit und Verlässlichkeit, liefern Sie Ideen und erweisen Sie sich zugleich als technisch versiert. Präsentieren Sie sich auch mit internationalen Erfahrungen oder sozialem Engagement, was Sie – falls Sie z.B. jetzt Wartezeiten haben, gut noch anschließen könnten. Und zeigen Sie auch, dass Sie vom Goethe-Gymnasium Teamfähigkeit und Teamgeist mitgenommen haben, so wie es jüngst die Darsteller und Musiker ihres Jahrgangs in ihren ‚Parallelwelten’ oder beim ‚Schall ist rund’ oder ‚Geld macht Glücklich’ unter Beweis gestellt haben – dann werden Sie vermutlich zwar nicht gleich mit Werbeaufträgen für diverse Milchschnitten, Yoghurts oder Scheckkarten überhäuft, aber doch hoffentlich mit der Frage konfrontiert, wie denn bitteschön die Gehaltsvorstellungen sind. Und bewahren Sie auch kritische Distanz zu diesem milchschnittigen Glauben an den jahrelang erlebten sofort-Cash nach vielleicht nur 15 Sekunden Werbung oder nach den drei Minuten und 11 Sekunden eines Popsongs mit astronomischen Einspielsummen, ja bewahren sie grundsätzlich kritische Distanz zur Droge Geld, die gerade bei heutigen Kindern und Jugendlichen die Köpfe umnebelt und eventuell auch bei Ihnen die Wichtigkeit von solider Ausbildung und schrittweisem Erfahrungsgewinn in den Schatten treten lassen könnte. Soweit also ganz harmlos aus der Abteilung wohl-meinender Lebensratschläge.
Schwieriger wird es allerdings, Ihnen Rat zu geben zu einer zweiten Dimension von Entwicklungsperspektiven, die sich uns bildhaft tagtäglich auf dem grünen Rasen präsentieren. Es ist in der Tat eine Freude das gelebte ’Zu Gast bei Freunden zu sehen’; die Liberalität und Toleranz verschiedenster Menschen aus allen möglichen Ländern, die Sieg oder Niederlage ‚Ihrer’ jeweiligen Mannschaften Schulter an Schulter mit anders Eingestellten bei Public-Viewings oder in den Stadien erleben, wo ein neues spielerisches Zugehörigkeitsgefühl zu einer Marke, einem Verein oder einem Land auch mit einem Fähnchenschwenken einhergeht, Und ich freue mich, dass dieses in unserem Land möglich ist, ohne dass kriegerische Urgelüste geweckt werden und dumpfer Nationalismus recycelt wird. Was dort tagtäglich zu sehen ist, beweist vielmehr, das viele Menschen auch mental in der globalisierten Welt angekommen sind, da in der Tat – weil bereits Kapitalverkehr und Warenaustausch weltweit fast völlig frei erfolgen – das Einmarschieren beim nächsten oder übernächsten Nachbarn nicht mehr so furchtbar viel Sinn macht. Das haben zwar noch nicht alle Regierungen und Präsidenten dieser einen Welt begriffen, aber man wird das noch lernen – und sei es dadurch, dass diesen die Kosten für eine unzeitgemäße Produktionsweise aus dem Ruder laufen. Aber der grüne Rasen macht auch überdeutlich, dass auch eine weitere Komponente der Globalisierung bereits Realität geworden ist: Unten auf dem Grün wird mit Händen greifbar, dass auch die Schranken für die Freizügigkeit der Arbeit endgültig weggebrochen sind, wir sehen dort unten die modernen Wanderarbeiter, die in diesem Falle extrem hoch bezahlt heute für den, morgen für jenen Staat, Verein oder Konzern aufspielen. Leider – und das ist gegenwärtig ein Dilemma und zugleich schreiende Ungerechtigkeit – gibt es auch extrem schlecht bezahlte Wanderarbeiter oder vielfach sogar nur Hungerlöhne. Die Heerscharen von Migranten nach Europa oder von Chicanos, die aus Mexiko in die USA wandern, sind ein augenfälliges Beispiel. Und auch die Generation Praktikum ist ein Element dieser Entwicklung und wird auch vor Ihnen nicht halt machen: Denn warum sollte man z.B. einem Berufsanfänger als Architekten bei uns, der Bauzeichnungen am Computer bastelt, überhaupt nennenswert bezahlen, wenn man für die selbe Leistung und Qualität in Indien nur ein Zwanzigstel bezahlen muss und die mentale Leistung mit zwei Klicks hin- und zurück geschickt werden kann? Also erscheint das Praktikum doch genau als das passende Arbeitsverhältnis. Freiwillig wird erst dann mehr gezahlt werden, wenn soviel Kompetenzzuwachs erlangt wurde, dass man auf diesem Markt konkurrenzlos oder unverzichtbar ist. In diesem Satz steckt auch zugleich der Rat, den die Schule Ihnen heute mit gibt – feiern Sie ruhig hier und heute ausgiebig Ihren Erfolg, aber ruhen Sie sich nicht auf diesen Lorbeeren aus. Und ein zweiter Ratschlag gehört auch dazu, von einer Schule, die sich stets dem sozialen Ausgleich verschrieben hat und kehren Sie dazu noch einmal zurück zu dem Bild der verschiedensten Nationalitäten, die auf dem Heiligengeistfeld oder sonst wo in der Republik gemeinsam feiern und stellen Sie sich mit mir gemeinsam der Frage, wieso schaffen Menschen verschiedener Nationalitäten nicht ebenso einmütig und zügig einheitliche Arbeits- und Sozialstandards, so dass eine Konkurrenz über ein Sozialdumping unmöglich wird? In der Umweltpolitik hat das doch auch gar nicht so lange gedauert, wenn man die Zeit von den ersten Turnschuhen im deutschen Bundestag bis zur weltweiten FCKW-Ächtung betrachtet – da kann man Sie doch fast aufrufen, sich schleunigst vergleichsweise sozialpolitische Treter unterzuschnallen und die Beseitigung des Praktikantenunwesens hier wie dort zu fordern, und: geht nicht – gilt nicht, denn Teppiche aus Kinderhandarbeit gelten nicht nur bei IKEA schon nicht mehr als schick. Und etwas Drittes, was Sie – selbstkritisch gesagt – vielleicht an unserer Schule nicht genug gelernt haben, lassen Sie sich in dieser Dimension auch mitgeben: Forderungen nach angemessener Bezahlung und Arbeitsbedingungen setzt man nicht durch frei nach dem hier vor nicht allzu langer Zeit gehörtem Song – ‚Hey Boss, ich brauch mehr Geld’, sondern da muss man sich schon an das Vorbild der Ärzteschaft halten, deren jüngster Erfolg maßgeblich darin begründet war, dass sie sich gemeinsam organisiert hatten und obendrein ganz praktisch mit der Globalisierung drohen konnten – ihre Fähigkeiten werden eben weltweit gebraucht. Und dazu muss man gegebenenfalls auch völlig neue Organisationsformen schaffen, eben internationale – hier gibt es eine Menge zu tun, also packen Sie es an.
Und eine dritte Dimension, die die Fußballeuphorie dem aufmerksamen Beobachter heute nahe legt, sei zum Schluss angefügt und die fordert die Weiterentwicklung von Ihnen als Abiturientinnen und Abiturienten des Goethe-Gymnasiums zu politisch handelnden Subjek-ten in unserer Zeit und unseren Ländern, in denen nicht nur im Staate Dänemark etwas faul ist – vielleicht dort sogar weniger als anderswo.
Es ist gegenwärtig im Fußball und in Hamburg viel Geld unterwegs, es wird fix was verdient und manch einer macht gegenwärtig sicher die Geschäfte seines Lebens. Aber wird von denen, die jetzt auf der Sonnenseite stehen, auch fair mit der Allgemeinheit, dem Mitspieler ‚Staat’ umgegangen? Handelt man nach der Maxime der ‚ehrlichen Kaufleute’ und werden tatsächlich zumindest die Unkosten dieser Geschäftemacherei der Gesellschaft zurückgegeben, oder wird auch dieser Mindeststandard übergangen mit dem schnöden Hinweis auf die zu zahlenden Steuern, die man andernorts durch geschickte Bilanzmanipulationen zu vermeiden schafft? Man gerät doch durchaus ins Grübeln, wenn man jetzt Anfang der Wo-che lese konnte, dass der Verein, von dem hinten in der Vitrine sogar ein Fußball liegt, die Fernsehrechte für die nächsten 7 Jahre für eine Milliarde Euro verkauft hat; mit dieser Summe, die der FC Barcelona jetzt einnimmt, könnten Sie locker alle Gehälter des Goethe-Gymnasium, von der Putzfrau bis zum Schulleiter für die nächsten 400 Jahre bezahlen. Und wir selbst sind bereits Trittbrettfahrer dieses Systems, in dem wir von dem Fußballzirkus profitieren und Sporthalle und Sportplatz WM-tauglich saniert bekommen haben – nicht etwa aus Mietgeldern der FIFA – die hat die Halle nach der Vorgabe des Senats mietfrei erhalten – sondern in dem ach so knappen Bauetat der Schulbehörde wurde unsere Schule nur vorgezogen, da Hamburg sich ja nicht lumpen lassen kann und ein über 25 Jahre vom vielen Schülerschweiß abgenutzten Gebäude der internationalen Volunteergarde überlas-sen kann – hat hier jemand gerufen ‚das sind ja auch Praktikanten’? Nein die Wirklichkeit einer armen Stadt mit einigen sehr reichen Leuten wird auch in Lurup getreu der neroischen Politikformel ‚panem et circenses’ inszeniert. Ich will ja nicht als Spielverderber auftreten, aber da Verträge und Gesetze von Menschen gemacht werden, möchte ich auch heute auf Sie als künftig meinungsstarke Wähler oder gar politisch Verantwortliche setzen und Ihnen die Frage mitgeben, weswegen vermietet die Stadt und ihre gewählten Regenten so ein tolles Sportgelände wie unseres nicht an die FIFA zu marktüblichen Preisen und erwirtschaftet damit einen großen Batzen der Sanierungskosten? Oder warum wird der ge-samte staatliche Sicherheitsapparat inklusive vorgehaltenen abschussbereiten Abfangjets nicht den Veranstaltern in Rechnung gestellt? Man könnte mit diesen Geldern ohne große Probleme auch die Sanierung von solchen Turnhallen bezahlen, die nicht die Monopolstellung haben wie wir, nur 500 Meter entfernt vom gegenwärtigen Nabel der Stadt entfernt zu liegen. Das gilt übrigens auch für andere Events: wenn ich mich abends aus der Schule nach Hause bewegen will, stellt sich mir schon die Frage, wieso eigentlich all die verkehrsregelnden Polizisten nach einem Megaevent aus dem Staatssäckel bezahlt werden, während ich als Schulleiter komplementär dazu gerade wieder genötigt war, die Klassen und Kurse kontraproduktiv zu einem zukunftsorientierten Lernen gnadenlos voll zu stopfen, damit im Ergebnis Musikbusiness und einzelne Künstler sowie Fußballindustrie noch größere Millionengewinne einstreichen. Es würde fast niemandem wehtun, wenn die Vereine vielleicht nicht 20 oder 50 Millionen Ablösesumme abdrücken würden, sondern frei nach dem Verursacherprinzip eine entsprechend hohe Rechnung an die Stadt für ‚Security Services’ begleichen müssten oder wenn einige Spieler statt sechsstellige nur fünfstellige Gehälter erhalten würden – pro Woche, versteht sich.
Ich will damit anlässlich Ihres Abitur und des bisher gelungenen Fußballfestes keine Neiddebatte anregen, aber wir wären schlechte Pädagogen, wenn wir nicht auch an die Verbesserungsfähigkeit der Regeln des Zusammenlebens und -wirtschaftens in unserem Land glauben würden. Und änderbare Zustände, die insgesamt und nicht nur im Sport – dazu führen, dass in unserem Land nur gut 5% des Bruttosozialprodukts in die Bildung der nachwachsenden Generation gesteckt werden und nicht wie bei den Spitzenreitern in der PISA-Liga wie Finnland, Schweden oder Kanada gar 7%, gibt es bei genauerem Hinsehen sicher viele.
Und trotz so hohen Handlungsbedarfs lassen Sie uns heute gemeinsam feiern und freuen. Freuen wir uns, dass schon viel erreicht worden ist – manch einer von Ihnen hätte vor 50 Jahren den heutigen Abschluss nicht erreichen können, weil er nicht von entsprechendem Stand war oder die Eltern nicht das nötige Kleingeld hatten. Und dass Sie es heute geschafft haben, liegt in dem einen oder anderem Fall auch am Engagement Ihrer Lehrer, denen ich hiermit mit Nachdruck für die geleistete Arbeit meinen Dank ausspreche. Dass Sie es geschafft haben, liegt vor allem aber auch an Ihnen selbst, denn obwohl Ihre Lernbedingungen von Sparhaushalten untergraben wurden und Sie durch Zentralabituranforde-rungen noch weiter dezimiert werden sollten, haben Sie sich trotzdem durchgebissen. Insofern haben Sie sich also unmerklich selbst bestens gerüstet, um unter sich laufend verschlechternden Bedingungen zu behaupten – das sollte Ihnen Mut und Zuversicht geben, in eine unsichere Zukunft zu gehen.
Aber vielleicht ist neben Ihnen auch ein virtueller Platz von jemandem frei, von einem oder einer, an die Sie sich erinnern und die es nicht geschafft haben, weil der Staat, unsere Schule und unsere Gesellschaft nicht das nötige Kleingeld hatten, die angemessene Förderung und Unterstützung zu gewähren. Wir sollten alle gemeinsam daran arbeiten, dass spätestens, wenn Sie Ihre Kinder am Goethe-Gymnasium anmelden, eine solche Bildungspolitik der Vergangenheit angehört. Es ist noch Einiges zu tun und wir bauen da auf Sie, dass wir gemeinsam dieses Zukunftsprojekt angehen.
Egon Tegge – Schulleiter 07/2006